Buchreview: Getting to YES

„Verhandlungen sind vielleicht etwas für Einkäufer – ich habe damit nichts zu tun“, würden wahrscheinlich viele sagen und an „Getting to YES“ achselzuckend vorbeigehen. Tatsächlich verhandeln wir alle aber mehrmals jeden Tag – ob in der Beziehung, der Freizeit oder im Job. Der Klassiker zum Thema von Roger Fisher, William Uri & Bruce Patton vermittelt dazu nicht nur die wichtigsten Grundlagen, sondern – viel wichtiger – auch das richtige Mindset.

Kernaussagen und Konzepte – darum geht’s
Über die fünf Teile des Buchs hinweg beschreiben die Autoren zunächst den größten Fehler der meisten Verhandler, nämlich sich über Positionen auseinander zu setzen. Dieses Muster kann man an einem beliebigen Souvenirstand eines südlichen Urlaubslands täglich beobachten: Käufer und Verkäufer haben jeweils eine Summe vor Augen und beim Austausch ihrer Argumente und Positionen nähern sie sich jeweils an, bis sie etwas nördlich oder südlich des arithmetischen Mittels einschlagen – oder eben nicht.

Was beim Urlaubssouvenir noch ganz gut funktionieren mag – weil es sich lediglich um ein vergleichsweise unwichtiges Gut handelt –, endet schnell in einem „faulen Kompromiss“ wenn mehr Emotionen im Spiel sind. Beispielsweise wenn darum „verhandelt“ wird, wohin der Jahresurlaub der Familie überhaupt geht. Denn: Wenn sie nach Bali an den Strand möchte und er sich nach den Alpen sehnt, läge der „faire Mittelweg“ geographisch betrachtet wohl irgendwo in Afghanistan oder Pakistan. Und damit wäre wohl weder ihr noch ihm geholfen.

Smartere Verhandlungen sind nach Überzeugung der Autoren daher solche, die sich nicht der reinen Position widmen, sondern die (dahinterliegenden) Personen und Interessen in den Blick rücken und neue / andere Optionen mithilfe von objektiveren Kriterien suchen. Im Beispiel müsste also tiefer ergründet werden, welche Wünsche mit den Reisezielen verbunden werden oder ob es nicht vielleicht noch ganz andere Ziele mit einer größeren Schnittmenge von Strand und Bergen gibt.

Was aber, wenn mein Gegenüber gar nicht erst „mitspielt“ oder nicht „fair“ spielen möchte? Auch diese Fragen behandeln die Autoren und bieten als Lösungen die inzwischen im Verhandlungskontext zum Standardrepertoire gehörende BATNA (“Best Alternative to Negotiated Agreement”) oder Methoden wie „Negotiation Jujitsu“ an.

Wie das beim Wachsen hilft – meine wichtigsten Take-aways
Wie eingangs beschrieben, befinden wir uns täglich in kleinen Verhandlungssituationen, nicht nur beim Einkauf oder bei der nächsten Gehaltsverhandlung. Das Buch hält also für jede/n ein paar einige wichtige Einsichten bereit. Für mich sind das:

  1. Bewusstwerden: Was steckt hinter meiner Position? Was möchte ich damit erreichen und was ist mir mein Ziel wert? Was möchte mein Gegenüber und was kann ich möglicherweise anbieten um ihm/ihr zu helfen, ohne dabei mein Ziel zu opfern. Oft führt das zu kreativen, ganz neuen Lösungen. Und: Was wäre denn eigentlich die „zweitbeste Alternative“ für mich, wenn keine Einigung erzielt werden kann? Dieser Gedanke erweitert ebenfalls den Lösungsraum.
  2. Menschenbild & Beziehungen: Ich komme weiter, wenn ich mein Gegenüber unabhängig von der Verhandlungsposition wahrnehme und ehrlich und offen nach Win-Win-Situationen suche (ohne dabei soft zu sein!). Langfristig stärkt das meine Beziehung, weil sich mein Gegenüber nicht übervorteilt fühlt.
  3. Objektivität & Emotionen: Auf objektive Kriterien zu fokussieren hilft auch dabei, die eigenen Emotionen im Griff zu behalten (und sich ihrer wieder einmal bewusst zu werden).

One thought further – weitergedacht
Während mich Getting to YES sehr insgesamt überzeugt hat und ich die universelle Methodik ebenso wie die dahinterliegenden Gedanken schätze, sehe ich vor allem zwei Bereiche, in die das Buch noch etwas tiefer einsteigen könnte:

  • Wie tickt mein Gegenüber: Andere Bücher – beispielsweise “Deal!” von Jack Nasher schaffen es, auch in verhaltenspsychologische Phänomene und Effekte einzuführen und damit die Verhaltensweisen meines Gegenübers besser zu erklären.
  • Was tun in aussichtslosen Fällen: Die Autoren reißen ein paar Sondersituationen zwar in den 10 Fragen am Ende ihres Buchs an, beantworten für mich aber insgesamt zu wenig, wie man in wirklich schwierigen und festgefahrenen Verhandlungen Durchbrüche erzielt.

Fazit
Getting to YES ist ein sehr gutes Grundlagenwerk, das trotz seines Alters nichts an Gültigkeit eingebüßt hat. In sehr herausfordernden Situationen, in der ein/e Gegenspieler/in komplett auf das Positionsspiel beharrt oder zu unfairen Mitteln greift und nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist, kommt die Methodik jedoch an ihre Grenzen. Wie die Autoren selbst schreiben, bleibt als Ausweg dann nur die beste Alternative zur Verhandlungslösung.

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